Martin Luther schreibt von der Wartburg an Georg Spalatin und spricht sich gegen eine Gefangennahme oder Hinrichtung der sogenannten Zwickauer Propheten aus

Signatur:
LASA, Z 8, Nr. 137
Seitenangabe:
1r-v
Datierung:
17. Januar 1522
Orte:
Eisenach
Eisenach
Wittenberg
Eilenburg
Wichtige Personen:
Luther, Martin (* 1483 † 1546)
Spalatin, Georg (* 1484-01-17 † 1545-01-16)
Georg <Sachsen, Herzog> (* 1471 † 1539)
Albrecht <Mainz, Erzbischof, Kurfürst, Kardinal, II.> (* 1490 † 1545)
Friedrich <Sachsen, Kurfürst, III.> (* 1463 † 1525)
Capito, Wolfgang (* 1478 † 1541)
Didymus, Gabriel (* 1487 † 1558)
Bearbeiter:
Rothe, Vicky
Überlieferungsform:
Ausfertigung
Historische Einordnung:
Am 17. Januar 1522 kündigte Luther an, dass er aus der „Einöde“, wie er sein Versteck auf der Wartburg in Anlehnung an den Rückzugsort frühchristlicher Eremiten nannte, nach Wittenberg zurückkehren würde. Doch was bewegte Luther dazu, seinen sicheren Unterschlupf wieder zu verlassen?
Wie der vorliegende Brief zeigt, hatte dies mehrere Gründe: Zum einen beunruhigte ihn die harsche Haltung Herzog Georgs von Sachsen gegenüber seinen Anhängern. Dieser machte Anstalten, reichsrechtlich gegen die evangelische Bewegung insbesondere in der Stadt Wittenberg vorzugehen. Diese Angst war nicht unberechtigt, war doch Herzog Georg ein mächtiger Reichsfürst mit großem Rückhalt bei der Mehrzahl der altgläubigen Reichsstände.
Zum anderen gaben Luther die sogenannten „Zwickauer Propheten“ zu denken, die sich aus dem Personenkreis um Nikolaus Storch, Thomas Drechsel und Markus Stübner konstituierten. Diese hielten sich um den 27. Dezember 1521 in Wittenberg auf und verkündeten ihre Glaubensvorstellungen. So behaupteten diese Laienprediger, vom Heiligen Geist erfüllt zu sein und predigten den Abfall von der Kirche zugunsten des wahren Glaubens. Anstoß nahmen sie besonders an der Kindertaufe, da Kinder nach ihrer Ansicht noch nicht in der Lage waren, den christlichen Glauben zu erfassen. Hier ist eine enge Verbindung zur Entstehung des späteren Täufertums erkennbar. Ein starker Einfluss auf die Zwickauer Propheten ging von Thomas Müntzer aus, der sich von Oktober 1520 bis April 1521 in Zwickau aufhielt. Obwohl die Kritik der Zwickauer Propheten an der Amtskirche und der Obrigkeit auch Luther als potenziell gefährlich galt, mahnte er zur Besonnenheit und warnte vor einem gewaltsamen Vorgehen.
Tatsächlich ausschlaggebend für seine Rückkehr war aber die Situation in Wittenberg selbst, wo unter der Führung von Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt zahlreiche Neuerungen im Kirchenwesen vorgenommen worden waren. Luther war zwar stets gut durch brieflichen Kontakt unterrichtet, konnte aber aus der Ferne nur schriftlich und immer erst nachträglich an den Geschehnissen in Wittenberg und seiner Umgebung sowie an der Diskussion über die generellen theologischen Entwicklungen teilhaben. Die anfänglichen Veränderungen sah Luther noch mit Wohlwollen, wie etwa die ersten öffentlichen evangelischen Messen auf Deutsch. Doch die reformatorischen Auswüchse in Eilenburg, die auf den eigenmächtigen Handlungen des Gabriel Zwilling beruhten und die zunehmende Radikalisierung der evangelischen Bewegung in Wittenberg, die sich u. a. in der von Karlstadt herausgegebenen Kirchenordnung ausdrückte, missfielen Luther sehr. Er sah seinen Platz als ‚erstberufener Reformator‘ gefährdet. Die reformatorische Bewegung schien ihm mehr und mehr aus den Händen zu gleiten. Dies war der eigentliche Konflikt: Es ging um den Kampf um die Deutungshoheit und den Führungsanspruch im evangelischen Lager sowie um einen Abgrenzungsprozess zwischen den gemäßigten und radikalen evangelischen Strömungen, die alternative Reformkonzepte vertraten. Mit seiner Rückkehr nach Wittenberg im März 1522 übernahm Luther erneut direkte Verantwortung. „Denn“, so Luther in seinem Brief an Spalatin, „das erfordert die Sache.“
Literatur:
Harold S. Bender, Die Zwickauer Propheten, Thomas Müntzer und die Täufer, in: Abraham Friesen/Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Thomas Müntzer. (Wege der Forschung 491) Darmstadt 1978, 115-131.
Martin Brecht, Martin Luther. Bd. 2: Ordnung und Abgrenzung der Reformation 1521-1532. Stuttgart 1986.
Thomas Kaufmann, Thomas Müntzer, „Zwickauer Propheten“ und sächsische Radikale. Eine quellen- und traditionskritische Untersuchung zu einer komplexen Konstellation. (Thomas-Müntzer-Gesellschaft e. V. Veröffentlichungen Nr. 12) Mühlhausen 2010.
Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. 2., durchges. Aufl. München 2013.
James M. Stayer, Sächsischer Radikalismus und Schweizer Täufertum: Die Wiederkehr des Verdrängten, in: Günter Vogler (Hrsg.), Wegscheiden der Reformation: Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Weimar 1994, 151-178.
Nachweis früherer Editionen:
Johann Aurifaber (Hrsg.), Continens Scriptas Ab anno Millesimo quingentesimo vigesimosecunduo, vsq[ue] in annum vigesimum octauum. (Epsitolarum Martini Lutheri 2) Jena 1565, 40bf. [vollständig]
Wilhelm Martin Leberecht de Wette (Hrsg.), Dr. Martin Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken: vollständig aus den verschiedenen Ausgaben seiner Werke und Briefe, aus andern Büchern und noch unbenutzten Handschriften gesammelt, kritisch und historisch bearbeitet, Bd. 2. Berlin 1826, 135f. [vollständig]
Ernst Ludwig Enders (Hrsg.), Dr. Martin Luther‘s Briefwechsel, Bd. 3: Briefe vom Dezember 1520 bis August 1522. Leipzig 1889, 286. [vollständig]
Johann Georg Walch (Hrsg.), Dr. Martin Luthers Sämmtliche Schriften, Bd. 15, Teil 1: Reformations-Schriften. Zur Reformationshistorie gehörige Documente A. Wider die Papisten. Aus den Jahren 1517 bis 1524, aufs Neue herausgegeben im Auftrag des Ministeriums der deutschen ev. luth. Synode von Missouri, Ohio und anderen Staaten. St. Louis 1899, 2606f. [vollständig, deutsche Übersetzung]
D. Martin Luthers Werke, Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel Bd. 2 (Briefe 1520-1522). Weimar 1931, Nr. 452, 443f. [vollständig]
Bemerkung:
Orig.; 1 Blatt, Papier, 21,1 x 16,6 cm, beidseitig beschrieben, Brief; Rückseite: Adresse; abgefallenes Verschlusssiegel des Ausstellers; Eigenhändige Ausfertigung