Denkzettel Landgraf Philipps des Großmütigen zur Neuorganisation seines Territoriums im Sinn der Reformation

Signatur:
StA MR, Best. 3, Nr. 214
Datierung:
[Januar 1527]
Orte:
Burghasungen
Friedewald (Landkreis Hersfeld-Rotenburg)
Fulda
Bad Hersfeld
Hessisch Lichtenau
Kassel
Melsungen
Mühlhausen/Thüringen
Neustadt am Rübenberge
Pfalz
Rotenburg a. d. Fulda
Spangenberg
Wolfenbüttel
Person:
Philipp <Hessen, Landgraf, I.> (* 1504-11-13 † 1567-03-31)
Feige, Johannes (* 1482 † 1543-03-20)
Wichtige Personen:
Erich <Braunschweig-Lüneburg, Herzog, I.> (* 1470-02-16 † 1540-07-30)
Ludwig <Bayern-Landshut, Herzog, X.> (* 1495 † 1545)
Krautpeter, Veit
Tecklenburg-Schwerin, Mechthild von (* 1490 † 1558)
Philipp <Hessen, Landgraf, I.> (* 1504-11-13 † 1567-03-31)
Weiblingen, Rudolf (* 1533-04-10)
Ziege, Hans
Bearbeiter:
Joos, Clemens (* 1978)
Überlieferungsform:
Notiz
Historische Einordnung:
Der „Denkzettel“ ist ein typisches Beispiel für Memorialschreibwerk: Ein Schriftstück, das als Gedächtnisstütze für den Schreiber oder seine Nachfolger, nicht zur Kommunikation mit einem bestimmten Gegenüber bestimmt war, und daher auch keine Öffentlichkeit besaß. In manchen Kanzleien gab es für solche Notizen eigene Bücher, als Memoriale oder auch „Gedechtnusbüchlein“ bezeichnet; sie konnten aber auch, wie im vorliegenden Fall, einfach als Zettel aufbewahrt werden. Die Aufzeichnungen stammen von Landgraf Philipp selbst, dessen Handschrift im Vergleich zu den geübten Kanzlisten etwas ungelenk wirkt und einige sehr eigentümliche Buchstabenformen wie das ‚a‘ oder das ‚i‘ aufweist. Bei dem Zettel handelt es sich um eine Momentaufnahme der Regentensorgen des Landgrafen, die von der Auflösung der Klöster bis hin zur Hochzeit seiner Base Mechthild reichten, die am 13. Mai 1527 stattfinden sollte und ebenfalls nicht vergessen sein wollte. Aus dieser Hochzeit sowie aus der Tatsache, dass Hans Ziege noch nicht selbst Büchsenmeister war (Ernennung am 6. Februar), ergibt sich auch die Datierung des Zettels.
Diese „To-do-Liste“ des Landgrafen fällt in einen historisch sehr bedeutsamen Moment für die Regierung Philipps und die Reformation in Hessen: Im Verlauf des Jahres 1524 hatte er sich persönlich Luthers Lehren zugewandt und ließ ihre Ausbreitung in Hessen seither gewähren. Nachdem mit dem Speyerer Reichstagsabschied vom Sommer 1526 die Konfessionsfrage faktisch in die Hand der Territorialherren gegeben worden war, begann er nun aktiv mit der Umsetzung der Reformation. Philipp holte zunächst Erkundigungen ein, wie mit den bisherigen kirchlichen Einrichtungen im Sinne Luthers zu verfahren sei. Am 8. Oktober berichtete ihm Kurfürst Johann der Beständige aus Weimar, in Sachsen habe man Bruderschaften, Kalande und Jahrzeiten „abgetan“ und ihre Erträgnisse zugunsten solcher Pfarrer, Prediger und Kirchendiener verwendet, die bislang ungenügend versorgt waren, sowie zum Aufbau von Kirchenkästen. Den Ordensleuten habe man den Austritt aus den Klöstern angeboten, die Nichtaustrittswilligen in bestimmten Klöstern zusammengezogen, ihnen die „gottlosen“, sprich unevangelischen Zeremonien verboten und gute Prediger geschickt, die ihnen das Gotteswort predigen sollten. Auf der vom 21.–23. Oktober 1526 stattfindenden Versammlung zu Homberg versicherte sich Philipp der Unterstützung der Geistlichkeit für sein Vorhaben. Ende des Jahres verlegte er seine Hofhaltung nach Marburg. Wenig später entstand die Niederschrift des Zettels.
Philipp rekapitulierte mit dem „Denkzettel“ stichwortartig die nächsten Schritte, die er unternehmen wollte. Nicht in jedem Fall verbanden sich damit schon fertige Konzepte. Das gilt beispielsweise für den Satz „Item zu gedencken der spitel halben“, mit dem lediglich ein Problem markiert und noch keine Lösung aufgezeigt wurde. Planungen zur Einrichtung der vier Landeshospitäler bestanden nicht vor 1530. Dafür spricht auch, was von der bisherigen Forschung übersehen wurde, dass dieser Satz erst nachträglich, in einem zweiten Durchgang in das Schriftstück eingefügt wurde. Der Landgraf hatte die Spitäler also bei der ersten Niederschrift seiner Gedanken noch gar nicht „auf dem Zettel“.
Im Einzelnen beschäftigten ihn folgende Anliegen: In Marburg sollte der Umgang mit den Messen und kirchlichen Zeremonien geordnet werden und die Mönche sollten veranlasst werden, die Predigt (im Sinne Luthers) zu hören. Mit einem Satz von fundamentaler Bedeutung, „und das man der armen gedenck“, begründete der Landgraf den Aufbau einer Infrastruktur für das Sozialwesen. Die Marburger Bruderschaften, Stiftungen und Spitäler sollten zu diesem Zweck herangezogen und ein Kirchenkasten aufgebaut werden. Der Landgraf machte sich damit beinahe wörtliche eine Forderung zu eigen, die 1525 nach dem Bauernkrieg aus Marburg an ihn herangetragen worden war („dass alle Einkommen von Bruderschaften, Kalande, Spenden und anderem mehr zur Erhaltung hausarmer Leute in den Gemeinen Kasten gelegt und das Übrige der Stadt zu ihrem Nutzen übergeben werde.“ Philipps Kanzler hatte neben diese Forderung handschriftlich ein „abzuschreiben“ notiert, sie wurde also von landesherrlicher Seite direkt aufgenommen). Der Gemeine Kasten war 1522, noch während Luthers Exil auf der Wartburg, in Wittenberg und im darauffolgenden Jahr im sächsischen Leisnig eingeführt worden; er war eine Art zentraler Kirchenfonds, aus dem der Unterhalt des Pfarrpersonals und der -gebäude sowie sämtliche Sozialausgaben bestritten wurden.
In einem zweiten Schritt sollte dann mithilfe der Richter des Samthofgerichts das ganze Land visitiert werden, mit dem vorrangigen Ziel, das geistliche Personal und die Gottesdienste zu verbessern. Zugleich sollte das Armenwesen nach Marburger Vorbild umgestaltet, das heißt nun überall Gemeine Kästen eingerichtet werden. Die Fragen der Spitäler und der Eheangelegenheiten waren anzugehen. In den städtischen Klöstern sollen die evangelischen Prädikanten predigen, um die Mönche mit der neuen Lehre in Verbindung zu bringen, so hatte es schon Kurfürst Johann aus Sachsen berichtet. Ausdrücklich notierte der Landgraf dazu, dass die Prediger die Ordensleute nicht in ihren Gewissen „fangen“ sollten; die Ablehnung von Gewissenszwang war ein Gedanke, der Philipp wichtig war. Den Austrittswilligen sollten Wege aus dem Kloster gewiesen, die Nichtlandeskinder aber sofort ausgewiesen werden. Mit der Einsetzung von Vögten wurde die Klosterökonomie der landesherrlichen Aufsicht unterworfen. In Marburg sollte eine Universität, im übrigen Land sollten Schulen mit gelehrten und gut bezahlten Lehrern eingerichtet werden. Philipp wollte eine Hof- und Münzordnung aufstellen. Erstere, die wegen der Verlegung des Hofs nach Marburg drängte, erging tatsächlich am 26. August 1527; letztere erst 1531, obwohl der Landgraf 1527 in größerem Umfang Münzen prägte. Wegen der hohen Kontributionszahlungen beabsichtigte Philipp bereits auf dem Speyerer Reichstag 1526 aus dem Schwäbischen Bund auszutreten, dem er 1519 im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Raubzüge Franz von Sickingens beigetreten war. Die Kapitalkraft der oberdeutschen Reichsstädte, die er dort kennengelernt hatte, steht offensichtlich hinter der Absicht zur Schaffung eines Bündnisses mit den Städten; tatsächlich verfolgte Philipp das Ziel, die Städte in den 1526 geschlossenen Torgauer (Fürsten-)Bund miteinzubeziehen. Gemeinsam mit dem Zeug- und Büchsenmeister sollte eine umfangreiche Überprüfung des Festungs- und Artilleriewesens erfolgen. Zwei seiner Fachleute sollten nach Wolfenbüttel und Neustadt, den Residenzstädten der verbündeten Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel und Braunschweig-Kalenberg, reisen, um dort Neuerungen beim Festungsbau zu studieren. Für beides, die Landesfestungen wie für seine Artillerie, sollte Philipp in den darauffolgenden Jahren eine gewisse Berühmtheit erlangen. Die Bauern, die von Wildschäden betroffen waren, sollten eine Abgabenermäßigung erhalten. Das war ein Versuch, den Dauerkonflikt zwischen den Interessen der Landwirtschaft und der fürstlichen Jagd, der an einem hohen Wildbesatz gelegen war, zu befrieden und war ebenfalls eine Reaktion auf Klagen, die während des Bauernkriegs vorgebracht worden waren. Der eigenen Hofhaltung diente die Erinnerung, Hafer zu bevorraten. Der Rest der Notizen ist schließlich einer umfangreichen Bestandsaufnahme und Neuordnung des Finanzwesens, als dem Nervus rerum der Territorialherrschaft schlechthin, gewidmet: Die Amtsrechnungen sollten offen gelegt und die Amtsknechte stärker beaufsichtigt werden, die Rechnung des Kammermeisters sollte abgehört werden und mit ihm sollte ein Krisengespräch über die Schuldenlage stattfinden. Das, was der Landgraf selbst überblickte, listete er anschließend auf: Als Aktiva konnte er Strafzahlungen der Äbte von Fulda und Hersfeld sowie der Reichsstadt Mühlhausen (Thüringen) für die hessische Intervention im Bauernkrieg verbuchen. Weiterhin wollte er sich an den Silbersachen der Klöster schadlos halten, was auch der Schwäbische Bund seinen Mitgliedern nahegelegt hatte, als er im Juni 1525 neue Geldumlagen zur Begleichung der Kosten für den Bauernkrieg einforderte. Silber im Wert von 4.621 Gulden hatte Philipp bereits 1526 eingezogen und einschmelzen lassen. 700 Gulden hatte Herzog Erich I. von Braunschweig-Calenberg zu zahlen. 66.000 Gulden, gestreckt auf drei Jahre, rechnete Philipp von den Landständen zu erhalten (tatsächlich war auf dem Homberger Städtelandtag im Mai 1526 wohl u.a. als Ehesteuer zur Verheiratung Mechthilds eine Landsteuer in Höhe von 60.000 Gulden bewilligt worden; der Landgraf hoffte also auf 2.000 Gulden pro Jahr mehr). Diesen zu erwartenden Einnahmen standen gewaltige Verpflichtungen gegenüber: 4.000 Gulden Kontribution zum Schwäbischen Bund, 4.000 Gulden Türkenhilfe, 12.000 Gulden für den Herzog von Bayern, 700 Gulden für den Pfalzgrafen und weitere 8.000 Gulden für die die Aussteuer seiner Base. Auch diese Bestandsaufnahme der Finanzmittel war eine Voraussetzung für die angestrebte Neuordnung des Territoriums.
In die Regesten zur Reformationsgeschichte wurden Philipps Aufzeichnungen nur etwa bis zur Hälfte aufgenommen, weil der zweite Teil scheinbar nichts mit der Reformation zu tun hat. Damit wurde jedoch ein wichtiger Zugang zum Verständnis der Aufzeichnungen verstellt: Denn gerade die thematische Breite des Spektrums von der Kirchenverfassung bis hin zum Haushaltswesen, den Geschützen und Befestigungen, verdeutlicht, wie stark der von Philipp angestoßene Reformationsprozess in eine Neujustierung und Neusortierung seiner gesamten Herrschaft eingebettet ist.
Literatur:
Fritz Beck, Die Artillerie Philipps des Großmütigen. In: Philipp der Großmütige. Beiträge zur Geschichte seines Lebens und seiner Zeit. Marburg 1904, S. 429–443, 440.
Eckhart G. Franz, „Item zu gedenken der spitel halben“. Landgraf Philipps Reformkonzept und die hessischen Hospitäler. In: Irmtraut Sahmland u.a. (Hrsg.), „Haltestation Philippshospital“. Ein psychiatrisches Zentrum – Kontinuität und Wandel 1535 - 1904 - 2004. Eine Festschrift zum 500. Geburtstag Philipps von Hessen. (Historische Schriftenreihe des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen. Quellen und Studien, Bd. 10.) Marburg 2004, S. 23–33, hier 24.
Günther Franz (Bearb.), Urkundliche Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte, Bd. 2: 1525–1547. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Bd. 11,2.) Marburg 1954, S. 7 f., Nr. 4 (zum Gewissenszwang).
Walter Heinemeyer, Armen und Krankenfürsorge in der hessischen Reformation. In: Walter Heinemeyer/Tilman Pünder (Hrsg.), 450 Jahre Psychiatrie in Hessen. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 47.) Marburg 1983, S. 1–20.
Hessen und Thüringen – Von den Anfängen bis zur Reformation. Eine Ausstellung des Landes Hessen. Wiesbaden 1992, S. 294, Nr. 539 f (Hans Schneider).
Günter Hollenberg (Hrsg.), Hessische Landtagsabschiede 1526–1603, bearb. von Günter Hollenberg/Heinrich Maulhardt. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen, Bd. 48.5/Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen, Bd. 9.) Marburg 1994, S. 43 f., 61–63, Nr. 1 mit Anm. 2.
Friedrich Küch (Bearb.), Quellen zur Rechtsgeschichte der Stadt Marburg. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Bd. 13.1.) Marburg 1918, S. 289–295, Nr. 212, hier 291.
Wilhelm Schmitt, Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und der Schwäbische Bund 1519–1531. Diss. phil. Marburg 1914, S. 100–148.
Christina Vanja, Anfänge frühmoderner Sozialpolitik. Die Neuordnung der Armen- und Krankenfürsorge in Hessen unter Philipp dem Großmütigen. In: Ursula Braasch-Schwersmann/Hans Schneider/Wilhelm Ernst Winterhager (Hrsg.), Landgraf Philipp der Großmütige (1504–1567). Hessen im Zentrum der Reform. Begleitband zu einer Ausstellung des Landes Hessen. Neustadt an der Aisch 2004, S. 87–92, hier 88.
Fritz Wolff (Bearb.), Marburger Religionsgespräch 1529–1979. Ausstellung im Hess. Staatsarchiv Marburg anläßlich der 450. Wiederkehr des Marburger Religionsgesprächs. Marburg 1979, S. 10, Nr. 4.1.
Nachweis früherer Editionen:
Günther Franz (Bearb.), Urkundliche Quellen zur hessischen Reformationsgeschichte, Bd. 2: 1525–1547. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, Bd. 11,2.) Marburg 1954, S. 25 f., Nr. 37.
Friedrich Küch, Landgraf Philipp und die Einführung der Reformation in Hessen. In: Zeitschrift für hessische Geschichte und Landeskunde 38, 1904, S. 210–242.